Ich heiße Charlotte und bin 13 Jahre alt. Seit ungefähr einem halben Jahr bin ich Diabetikerin. Die Krankheit hat bei mir plötzlich eingesetzt. Ich habe mich einige Wochen schlapp und müde gefühlt und dann kamen Tage, da hatte ich nur Durst, Durst und immer wieder Durst. Ich war mir selbst richtig unheimlich. Mein Vater - er ist Arzt - machte schließlich einen Blutzuckertest und dann war die Diagnose da: Ich hatte Zucker!
Die Tochter
Von nun an war mein Leben ganz anders. Täglich musste und muss ich 5 - 6 Mal meinen Blutzuckerwert testen und entsprechend häufig auch Insulin spritzen. Am Anfang hatte ich noch Probleme damit, aber schon seit dem zweiten Tag nach der Diagnose mache ich das selbst. In der Schule habe ich seitdem noch keinen Tag gefehlt.
Natürlich habe ich mich zuerst gefragt: "Wieso bloß ich?" Aber bereits nach einigen Tagen ging es mir immer besser. Ich wurde von
einem Diabetologen eingestellt, aber natürlich habe ich das Glück, bei Problemen auch meinen Vater fragen zu können. Heute habe ich nur noch selten Werte über 200 mg/dL. Dabei habe ich bemerkt, dass am Wochenende die Werte schlechter sind als unter der Woche. Während der Woche habe ich genaue Zeiten, zu denen ich messe und der Tag läuft eher nach Plan: mehr oder weniger geregelte Essenszeiten, die durch den Schulstundenplan bedingt sind, später Hausaufgaben erledigen und so weiter. Ich habe festgestellt, dass bei mir auch die Psyche eine große Rolle spielt. Auch wenn ich eine Erkältung kriege, kann ich das schon vorher an den Zuckerwerten sehen.
Stoffwechsel-Schwankungen in den Griff bekommen
Wenn es mir nicht gut geht oder wenn ich Probleme habe, sind die Werte schwankend. Es kommt auch vor, dass ich mich beim Essen verschätze, dann muss ich überlegen, was ich "falsch" gemacht habe, das heißt, mit welchen Nahrungsmitteln ich vielleicht übertrieben habe, z.B. mit Kakao oder Nutella. Für mich selbst habe ich beschlossen, die Finger von Softdrinks und Sirup zu lassen. Ich kann die Einheiten oft selbst mit meinem Buch, in dem ich nachschlagen kann, wie viel ich für bestimmte Nahrungsmittel spritzen muss, nicht ausrechnen. Ich finde, Diabetes-Therapie hat schon etwas mit Mathe zu tun!
Nie mehr Schokolade
Am Anfang war ich geschockt: Ich habe immer gedacht, Diabetiker dürften keine Süßigkeiten essen. Meine Mutter hatte auch nur noch Diabetikerschokolade und andere sogenannte Diätprodukte gekauft. Die Schokolade schmeckte schrecklich. Doch eine Woche vor den Herbstferien nahm ich in einer einwöchigen Diabetesschulung teil.
Dort habe ich noch mehr über meine Krankheit gelernt und erfahren, dass ich alle Süßigkeiten - nach eigenem Ermessen, das heißt auch, in Maßen - essen darf. Entsprechend muss ich die Menge Insulineinheiten, die ich spritze, anpassen.
Meine Blutzuckerwerte trage ich täglich in mein Diabetikertagebuch ein. So kann mein Arzt oder mein Vater die Schwankungen mitverfolgen. Ich habe außerdem mittlerweile meine gesamte "Ausrüstung" in doppelter Ausführung, so auch zwei Blutzuckermessgeräte. Ich versuche, ganz genau auf mein Gefühl zu achten, denn Mess-ergebnisse können schon mal verfälscht sein. Wenn der Test entgegen dem Gefühl einen hohen Wert ergibt, frage ich mich: Waren meine Finger sauber? Manchmal vergisst man trotz aller Selbstdisziplin einfach, die Hände vor der Messung zu waschen. Meine Freunde waren übrigens sehr interessiert, als sie mitbekamen, dass ich Diabetes habe.
Wie reagieren die Anderen?
Meine beste Freundin hat mir sogar ein Päckchen Traubenzucker geschenkt. Trotzdem messe ich nur ungern in der Schule. Wegen der nun mal erforderlichen Blutprobe benehmen sich manche Klassenkameraden etwas komisch. So gehe ich meist auf die Toilette, oder spritze nach Gefühl - nicht weitersagen! Schwierig sind manchmal nur die Eltern meiner Freunde. Die wollen alles richtig machen, dabei haben sie doch meistens gar keine Ahnung. Insgesamt komme ich sehr gut mit meiner Krankheit zurecht. Vielleicht wird die Forschung ja ein Mittel finden, um Diabetes zu heilen. Ich bin ja noch jung. Solange gehört die Krankheit halt zu meinem Leben. Ich fühle mich kaum eingeschränkt und genauso fit wie früher.
Der Vater
Ich bin Allgemeinmediziner in eigener Praxis und habe dementsprechend seit vielen Jahren auch mit Diabetespatienten zu tun. Die Einstellung des Diabetes sowie Beratung und Aufklärung dieser Patienten gehören zu meinem Berufsalltag. Seit meine Tochter hiervon betroffen ist, habe ich viele praktische Dinge gelernt, die zum Leben mit Diabetes gehören und die ich bis dahin in den Patientengesprächen überhaupt nicht beachtet habe.
Viele Fallstricke und Hindernisse wurden mir erst klar, seitdem ich täglich die großen und kleinen Alltagsprobleme meiner Tochter begleite. Die berufliche Sicherheit im Umgang mit den Fragen des Diabetes ging mir verloren, da ja nun mein eigenes Kind betroffen war. So wandten wir uns auch an einen Diabetologen, der seitdem unser Supervisor ist. Umstellungen, Laborwerte und Ähnliches werden mit ihm besprochen.
Meine Tochter nahm die Krankheitsdiagnose relativ gelassen hin. Sie war bereit, die Verantwortung für ihre Krankheit zu übernehmen und einige wesentliche Faktoren zu akzeptieren, die für den Umgang mit chronischen Krankheiten erforderlich sind:
Es ist die Krankheit des Kindes, also muss es auch die größte Kompetenz und Erfahrung aufbauen.
Das Körpergefühl muss unbedingt beachtet werden. Dieses Gefühl kann sogar wichtiger sein als die Messwerte. Im Zweifel nochmals messen!
Die Frage "warum ich?" kann man nicht beantworten. Es bleibt nur, die Tatsache zu akzeptieren.
Verantwortungsbewusstsein und Verlässlichkeit sind bei einer chronischen Krankheit unter Umständen lebenswichtig. Auch wenn es schwer fällt, Disziplin ist wichtig: Der gesamte weitere Lebensweg hängt davon ab. Und wenn einmal ein "Ausrutscher" vorkommt, bedarf es einer entsprechenden Reaktion.
Selbständigkeit, aber auch das Gefühl dafür, wann ein Problem der Klärung und der Unterstützung bedarf, sind erforderlich.
Auf dieser Grundlage war unsere Zusammenarbeit gut möglich. Von Anfang der Einstellung an, vor jeder der täglichen 5 - 6 Messungen fragte ich Charlotte nach ihrem Gefühl: "Was schätzt Du, welchen Wert hast Du aufgrund der aktuellen Gegebenheiten?" Schon nach wenigen Wochen hatte sie ein sehr genaues Gefühl entwickelt. Auch heute sind ihre Werte nicht optimal, aber insgesamt sind wir zufrieden. In der Regel sind täglich vier Werte unter oder um 100 mg/dL. Natürlich gibt es Probleme bei Infektionskrankheiten, schulischem Stress oder an Feiertagen und am Wochenende. Aber auch hier zeichnet sich eine positive Tendenz ab.
Sicherheit in außergewöhnlichen Alltagssituationen gewinnen
Welche Probleme können wir aus der Sicht der Betroffenen festhalten, die etwas außerhalb der ärztlichen Beratungsroutine liegen? Zunächst einmal ist es schwierig, bei der Nahrungsaufnahme die BE adäquat abzuschätzen. Misserfolge demotivieren und entmutigen zunächst. Doch das Einschätzen von BE/KHE ist erlernbar, wenn man von unerwarteten "Fallstricken" absieht. Sicherlich braucht das Kind eine intensive Begleitung, erst einmal sollte es aber selbst "rechnen". Fallstricke liegen meist außerhalb der gewohnten Ernährungs-Routine: Wie viel Zucker enthält beim Chinesen das süß-saure Schweinefleisch? Im Lokal ist auch der Kakao meist stark gezuckert! Um auch hierfür gerüstet zu sein, haben wir eine kleine Liste angelegt. Auch hier gilt: Im Zweifelsfall lieber noch einmal testen.
Selbständige, logische Überlegungen: Die sicherste Therapieergänzung
Und was ist auf der Wanderung oder beim Einkaufsbummel? Das große "Aha-Erlebnis" hatte Charlotte, als drei Messungen 240 mg/dl anzeigten und sie dann, nach dem Händewaschen, nur noch 120 mg/dl hatte. Wenn sie sich in der Situation nicht auf ihr Gefühl verlassen hätte, wären die Folgen fatal gewesen. Auch die schönen ablenkenden Erlebnisse in der Gruppe wie der Besuch im Erlebnispark oder der Gruppensport fordern jugendlichen Diabetespatienten viel Selbstdisziplin ab. Es gehört viel Stärke dazu, die Mannschaft zu verlassen, um beim Gefühl einer drohenden Unterzuckerung eine Zwischenmessung vorzunehmen. Hier kann ich nur empfehlen, eine gewisse "Voraussicht" zu trainieren. Körperliche Aktivitäten ohne ausreichende Nahrungsreserven sind ein weiterer Fallstrick: Bei der Radtour heißt es dann: "Komm, wir fahren nur noch ein Stück."
Mit logischen Eigenüberlegungen zur Therapie sowie einem geschulten Körpergefühl sind die Bedingungen für die Diabetiker durch die Fortschritte in Forschung und Technik im Vergleich zu früher geradezu paradiesisch. Die Zielvorgabe, ganz besonders beim jugendlichen Diabetiker, lautet: eine Zukunft ohne gesundheitliche Komplikationen. Das verlangt eine intensive und verantwortungsbewusste Beschäftigung mit dem Thema, zu allererst der Betroffenen selbst, aber auch der Angehörigen. Der vorliegende Beitrag soll Mut machen und Aufmerksamkeit auf die "kleinen Probleme des Alltags" lenken. Man - der Jugendliche selbst - kann sie nämlich meistern!